Wo sind die Orks? – Ist Vampire Live noch LARP?
Orks? Vampire? Gut, das passt nicht unbedingt zusammen, doch eure Aufmerksamkeit ist mir nun hoffentlich gewiss. Vampire Live ist schon lange kein Nischenrollenspiel mehr, es gibt weltweit hunderte Spielrunden, etliche Chroniken und diverse Spielauffassungen. Doch ist Vampire Live wirklich LARP? Und wenn ja, mit welchem Genre lässt es sich am besten vergleichen?
Zu viel Text? Hier geht es zum TL;DR.
Wir hier bei Urbs Jovis spielen extremes low-power Vampire. Es gibt keine Feen, Werwölfe, Magier oder pansexuelle, aromantisch-genderfluide Trollsukkubi. Stattdessen gibt es bei uns nur zwei Lager: Menschen und Vampire. Auf unseren Spielabenden dreht sich vieles um das soziale Miteinander unter Vampiren. Wir spielen also mit Etikette, Politik, Abstammung, Alter und Einfluss. Und hier ist meist der erste Stolperstein für Interessenten die von anderen Genres ins Vampire „stolpern“.
Nehmen wir einmal das Fantasy-LARP. Ein wunderschönes Genre, es lebt viel durch tolle Kostümierung, wilde Gedankenspiele ohne Barrieren wie Realität oder Logik. Bitte versteht mich nicht falsch, ich habe jahrelang Fantasy gespielt und vielen hier bei uns geht es ähnlich. Aber es unterscheidet sich eben schon in der Kernaussage des Genres zum Vampire Live. Fantasy-LARP, gerade auf Großcons, besteht zu einem gewissen Teil aus ‚Sehen und Gesehen‘ werden. Dies resultiert auch im altbekannten Ausrüstungswahn. Tränke, Phiolen, Rüstung, Waffen, Münzen und Gewandung. Oft geht man auf solchen Cons an anderen Spielern vorbei und denkt sich „Boah, geile Darstellung!“ doch angespielt hat man den Charakter noch nicht. Der Eindruck ist primär optisch und die eigene Fantasie hilft ungemein sich in jedes noch-so-irre Szenario hineinzuversetzen.
Das Vampire Live ist hier deutlich anders. Klammern wir Gangrel und Nosferatu mal aus, welche durchaus durch Gewandung auffallen, dann besteht ein Spielabend meist aus einem generischen, wenn auch geschmückten Raum und Spielern in Anzügen mit gemachten Haaren und glänzenden Schuhen. Ein Businesstreff? Keineswegs! Jedoch ein Spiel in dem die Kostümierung eine nachgestellte Rolle zum psychischen Spiel hat. Auch hier rede ich nur vom ersten Eindruck. Die Kostüme sind meist mit sehr viel Liebe konstruiert, voller Details, aber sie springen einem nicht immer direkt ins Gesicht.
Begeben wir uns jetzt also mal in diese Charaktere. Vera Ventrue betritt den Abend, gekleidet in ein schlichtes Cocktail-Kleid, das Täschchen unterm Arm und die Pumps poliert. Neben ihr haben wir Torsten Toreador, im Smoking, eine extravagante Fliege, Lackschuhe und die Haare mit einer roten Strähne versehen. Auffällig? Durchaus, aber was sagt die Kleidung über ihr Innerstes aus? Nun, erst einmal nicht viel, doch liegt die Wahrheit auch hier im Detail. Kleidung kann vieles aussagen, es deutet auf Zugehörigkeiten, politischen Gesinnungen, Ämter und Gesellschaftsschicht hin. Im Vampire Live ist sie meißt ein Instrument zur eigenen Erinnerung, ein Mitbringsel des menschlichen Ichs und oft auch Ausdruck tiefer Melancholie. Es braucht Fingerspitzengefühl, Zeit und vor allem Raffinesse um die angedeutete Botschaft der Charaktergewandung zu entschlüsseln.
Vampire Live, das bedeutet Spiel mit meist unbekannter, psychischer Tiefe. Man muss sich darauf einlassen, einsinken in die Szenen eines solchen Spielabends der nach Außen ausschaut wie ein Treffen der Businesselite Hamburgs. Auch für mich waren die ersten Schritte in diesem Genre ungewohnt, das politische Taktieren auf solchen Abenden ist besonders. Ein falscher Schritt, eine unbedachte Aussage und es kann einen gesellschaftlich ruinieren. Die Intensität eines elysialen Abends ist immens wenn man nur gut genug aufpasst. Vera Ventrue und Torsten Toreador sitzen nebeneinander, trinken aus ihren Gläsern, lachen und diskutieren scheinbar in enger Vertrautheit – doch in Wirklichkeit demontieren sie sich gerade gegenseitig, planen die Vernichtung des je anderen. Und all das wird belauscht von Norbert Nosferatu, der augenscheinlich unbeeindruckt an der Bar sitzt und mit seinem Weinglas spielt. Zuhören, hinschauen und tiefer blicken als das Offensichtliche einem Glauben machen mag – das ist Vampire Live und das macht dieses Genre auch so besonders.
Die Frage, die wir uns nun stellen sollten, ist also: „Ist Vampire Live das richtige Genre für mich?“ und die meißt korrekte Antwort hierauf ist: „Ja, aber…“. Lasst mich das „aber“ in diesem Satz ein wenig näher beleuchten:
Ganz genre-unabhängig spielen wir alle LARP und dennoch gibt es nicht „das eine LARP“. Zombie, Endzeit, Fantasy, Steampunk, Sci-Fi, Vampire, und so weiter – all diese Genre haben unterschiedliche Anforderungen. Dass sich Fantasy und Vampire Live voneinander unterscheiden habe ich ja nun oben ausreichend beschrieben und daher schließe ich dieses Buch nun – und versiegle es mit sieben magischen Drachenrunen ;-P
Das „aber“ im obigen Satz bezieht sich in meiner Aussage darauf, dass wir uns für jedes Genre von all den anderen, davor oder parallel gespielten loslösen müssen. Spiele ich Endzeit, dann kann ich nicht zwangsläufig auch sofort Fantasy spielen und genauso verhält es sich mit dem VL. In meiner persönlichen Auffassung möchte ich jeden Interessenten immer dazu anhalten auf einer grünen Wiese zu starten. Vergiss was du kannst, weißt und magst und beginne neu, erforsche das neue Genre (egal welches) als hättest du noch nie etwas vergleichbares gemacht – denn es ist nicht vergleichbar.
Ich bin ein Verfechter der „Genre-Reinheit“ (das neue Larp-Unwort des Jahres). Ich mag keine Fantasy-Einflüsse in meinem Vampire Live, ich mag keine Vampire Live Einflüsse und meinem Fantasy. Läuft meinem Söldnerhauptmann ein Brujah vor die Linse ignoriere ich ihn als wäre er nicht da. Behauptet ein vampirischer Gesprächspartner mir gegenüber, er wäre schon als Mensch magisch gewesen, dann hat dieses Gespräch für meinen Charakter nie stattgefunden.
Wir spielen in so detaillierten Welten, erschaffen über unzählige Jahre. Wir bedienen uns aus den aktuellen Geschehnissen der realen Welt. Es braucht einfach nicht noch mehr Neues in dieser Welt, in den unterschiedlichen Genres.
Daher mein Appell: Spiele so, als hättest du vorher nie etwas anderes gespielt. Lasse dich auf ein neues Genre ein, wie du dich einst auf das gesamte Hobby eingelassen hast. Vergiss was du weißt, vergiss was du kannst und entdecke mit den Augen eines unbefleckten Neulings.
Und ein kleiner Disclaimer: Ich spiele selbst seit Jahren Fantasy, Endzeit und Zombie. Ich liebe jedes einzelne Genre und möchte hier kein Bashing betreiben. Mir fällt nur verstärkt seit einigen Jahren auf, dass sich die unterschiedlichen Richtungen zu vermischen drohen – eine Veränderung, die mir nicht gefällt. Dieser Text lässt sich daher mit der Anpassung weniger Worte und Sätze in einen gleichwertigen Appell für jedes andere Genre verstehen – entstand jedoch aus meiner tiefen Liebe zum Vampire Live.
Ich merke, wie ich beim Schreiben so langsam den ursprünglichen Fokus des Themas verloren habe, war doch ursprünglich geplant herauszustellen dass Vampire Live mit dem klassischen Verständnis von LARP nicht mehr unbedingt konform geht. Aber ich denke der obige Braindump ist dennoch zumindest lesenswert. Wenn jemand mit mehr Fokus sich dem Thema noch einmal annehmen möchte, feel free!
Danke für’s Durchhalten bis hierher!
Tl;dr
LARP-Genres unterscheiden sich sehr stark voneinander und das ist gut so. Vermischung der Genres und des Spielverständnisses bringen ungewollte Unschärfen in die, mit viel Liebe zum Detail gebauten, Welten. Wenn ihr ein neues Genre bespielt, spielt es unbelastet von euren Vorerfahrungen. Lasst euch auf die eigene Dynamik einer neuen Spielwelt ein und entdeckt diese lieber neu als sie zu dem zu machen, was ihr bereits kennt und könnt. LARP ist ein Abenteuer und Abenteuer erlebt man zumeißt in unbekannten Gefilden. Ich freu mich drauf!
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