Die Formel zum Glück


Vampire Live und Pen & Paper, wo sind hier die Parallelen? Wie lässt sich der Charakterbogen in ein real bespieltes Konzept übersetzen, was bedeuten die Punkte eigentlich noch und brauche ich sie überhaupt? Ein Ausflug in die Untiefen der Charakterkonzepte, verbreiteter Irrtümer und ein wenig Mathematik.

Jeder kennt ihn irgendwoher und jeder mag ihn mehr oder weniger gern: Den Charakterbogen. Ein Monster aus Kästchen, Kullern™, Attributen, Disziplinen, Hintergründen, Vor- und Nachteilen und noch so vielem mehr. Die Erstellung eines Pen & Paper Charakters für eine klassische Vampire Masquerade Runde gleicht oft einem Bingo-Spielzettel, Haken hier, Kästchen dort und vielleicht bekommt man ja mit seinen Freebies den einen entscheidenden Vorteil der beim Würfeln in einer verzwickten Lage über Sieg oder Niederlage entscheidet. Soweit so gut. Aber das ist Pen & Paper und was ist jetzt mit Vampire LIVE?

Tja, da sieht die Sache schon einmal von der Grundvoraussetzung etwas anders aus: Kein Tisch, an dem alle sitzen und bei Kerzenschein Rotwein trinken, keine 10-seitigen Würfel, die bei jeder Aktion geworfen werden müssen, kein Spielleiter, der einen durch das Spiel führt. Irgendwie ist alles anders. Wir treffen uns in Person, verkleidet und spielen die Aktionen gegeneinander direkt aus. Wir würfeln nicht, sondern agieren nach der „Rule of Cool“. Wir rechnen auch keine Punkte zusammen, bevor wir uns auf die Nase hauen und die Frage nach der Generation des Anderen wird bei einem Dominate auch eher mit Mordgedanken des Betroffenen quittiert, als mit einem förderlichen Spielimpuls.

Wir benötigen also keine Punkte. Wir benötigen ja auch keine Würfel und wir haben auch im Spiel nicht alle unseren Charakterzettel in der Hosentasche stecken, gehen bei spontanen Aktionen kurz OT, holen den Taschenrechner raus und prüfen ob Vortrag und Einschüchtern gerade gegen die Sieben genug Erfolge gibt, um die Diskussion zu gewinnen. Wir spielen, um spontan zu sein. LARP wird so häufig als IMPROVISATIONStheater bezeichnet, doch irgendwie gehen P’n’P-Prinzipien und Improvisation sowie Spontanität leider selten zusammen.

Aber wozu haben wir denn dann die Charakterbögen? Warum hat die Spielleitung diese ollen Formeln? Nun, die dienen uns als grundlegendes Korsett. Würden wir Punkte generell abschaffen, dann könnte ja jeder bei der Charaktererstellen mal eben, weil geil, Kains Powerniveau kopieren und einfügen. Wir brauchen aber ein Machtgefälle, wir brauchen eine faire Verteilung und wir wollen unseren heiligen Ansatz des Low-Power auch unbedingt einhalten. Die Punkte dienen der Orientierung, sie dienen dazu, den eigenen Charakter in einem einfachen 1-5 Punkte-Korridor entsprechend zu verorten. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

An einem Spielabend prüft niemand nach, ob du gerade noch genug Willpower hast, um der Raserei zu wiederstehen – warum auch? Es juckt uns nicht. Wir wollen, dass du spielst und zwar frei nach Schnauze. Wir wollen, dass du auf Impulse eingehst und selbst welche setzt, aber eben immer im Rahmen der logischen Möglichkeiten deines Charakters. Bill Brujah mit seinen 10 Jahren kann eben leider noch nicht so viel reißen wie Gustav Gangrel mit seinen 120 Jahren.

Gut, ich habe ja eingangs mit ein wenig Mathematik gedroht und meine Drohung halte ich natürlich stets ein. Keine Sorge, es geht nur um ein paar einfache Kurven. Im Vampire Live kursiert nämlich fast überall eine Formel, die grundlegend falsch ist. Eine Formel, die über die Punkte eines Charakters und deren Auswirkungen auf das direkte Charakterspiel bestimmt. Diese Formel ist denkbar einfach und unsagbar falsch! Sie lautet wie folgt:

Anzahl Punkte = Höhe der Spielqualität

Wuah. Allein beim Ausschreiben schüttelt es mich gelinde. Warum ärgert mich denn diese Formel so? Nun das ist einfach:

Die Punkte bedeuten NICHTS für deine Spielqualität. Wie in einem der oberen Absätze bereits geschrieben, bedeuten mehr Punkte im Pen & Paper auch mehr Chancen zum Erfolg, sie bedeuten mehr „Krassheit“ des Charakters, mehr Möglichkeiten. Aber im Live ist dies einfach nicht der Fall. Denn hier geht es nur um die Spielqualität – und zwar nicht die deines Charakterblattes, sondern deine eigene, die von dir als Spieler. Du bist der limitierende Faktor im Spiel, nicht die Punkte und auch nicht Fähigkeiten und Fertigkeiten. Du ganz allein.

Im Vampire Live geht es um die Tiefe der Charaktere, das Spiel „miteinander gegeneinander“. Es geht darum zu leiden, seine Psyche anzukratzen, zu fallen und wieder aufzustehen, zu beißen und die Wunden zu lecken, Politik zu machen und Stuhlbeine zu sägen. Es geht um Aktion und Reaktion und nicht um Würfelwurf und Anzahl Erfolge.

Ich gehe sogar noch einen Punkt weiter und sage, die Formel sollte exakt andersherum lauten, nämlich:

Höhe der Spielqualität = Anzahl Punkte

Verrückt! Denn die Idee dahinter ist doch logisch: Bist du ein guter Spieler, überzeugst durch Spielqualität, Leistung und Impulse, die der gesamten Runde etwas bringen, dann lohnt es sich auch, dir mehr „Punkte“ zu geben, sprich, dein Korsett etwas lockerer zu schnüren. Dann bekommst du eben mehr Disziplinspunkte oder eine clansfremde Disziplin. Dann darfst du eben mal auf eine 5er-Stufe hoch, eben, weil du gezeigt hast, dass du mit diesen Werkzeugen umgehen kannst und sie dafür nutzt, wofür sie im Live da sind: Dir und anderen Spiel zu bereiten. Und das liegt an dir, ganz allein an dir und nicht an den Anzahl Kullern auf einem Stück Papier.

Unsere „Rule of Cool“ gibt es nur aus einem einzigen Grund: Jeder einzelne in der Runde soll Spaß und Genuss am Spiel der anderen haben. Aktion und Reaktion. Gewinnen und verlieren (wollen). Wir haben keine Erfahrungspunkte, wir spielen nicht mit Formeln und wir würfeln auch nicht im Infight. Wir spielen live, spontan, improvisiert. Es geht um dich und mich. Du willst mit mir Spaß haben und ich will nicht dein Soak-Level berücksichtigen (das klingt jetzt versauter als es gemeint ist…).

Das war’s, ich hoffe, der Beitrag beleuchtet ein wenig, warum Punkte im Live nicht so wichtig sind. Wozu sie dienen und worum es bei Urbs Jovis geht: Hochqualitatives Rollenspiel miteinander, füreinander. Vergesst die Kuller, vergesst die Formeln, vergesst die ganzen großen Regelwerke. Macht es euch einfach und benutzt das Setting nur als das was es ist: Der grobe Rahmen in welchem wir uns frei bewegen möchten. Ich persönlich habe einen Charakter über drei Jahre jeden Monat gespielt und habe mit ihm exakt vier Mal Disziplinen angewendet, auf seinem Charakterbogen stehen heute noch nur Name und Clan.

Ich freue mich, dass ihr es bis hierhin geschafft habt. Ich freue mich auch über euren Input zu diesem Thema. Denkt mal drüber nach, lasst es sacken und dann lesen wir uns später 🙂
Jules

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